Adolf Moritz Steinschneider Archiv

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-Chat Plin-

für Oma Musch

Tausend kleine Dinge und tausend Geschichten dazu,
manche in Staub gebettet, kommen nun zur Ruh`.
Andere sind noch ganz munter, werden noch lange bestehn,
werden bisweilen sogar ungeahnte Wege noch gehn.
Dein Haus bot Türen und Spalten in eine andere Welt,
voll Spannung und Zaubergestalten - natürlich viel besser als Geld!
Doch liegen die Kinderjahre heute ein Stückchen zurück,
mit ihnen viele Momente, Momente voll Trauer und Glück.
Ein Falter dreht jetzt seine Kreise, Erinnerungen fliegen mit.
Ein hölzerner Hahn kräht ganz leise, Chat plin zwinkert verschmitzt.

hannah feigenbaum april 2010

 

Grabrede für Musch Steinschneider

Liebe Danielle und Hannah, lieber Benny, liebe Gerlinde, lieber Miles und Maurice!
Liebe Trauergemeinde!

Es fällt uns allen schwer in dieser Stunde, Abschied zu nehmen von Musch Steinschneider.

Plötzlich während der letzten Tagen der Trauer erinnert man sich an ein Gespräch mit Musch, das man gerne fortsetzen würde, es kommt einem eine Frage in den Sinn, auf die man gern eine Antwort erhielte, eine Erinnerung, einen Hinweis, einen Einspruch oder doch vielleicht Muschs reifes, zuweilen spöttisches Lachen, wenn sie einen dabei ertappte, dass man mal wieder nicht ganz auf dem Damm war, wie die Berliner sagen...

Doch auch wenn Musch nun schweigt, wird sie denen, die sie gekannt haben, die mit ihr befreundet waren, zugänglich bleiben, nicht einfach nur in "guter Erinnerung" , sondern in der Erinnerung zugänglich, offen, irgendwie gesprächsbereit in den Spuren die sie hinterlässt, mit all den Erfahrungen, die sie durchgemacht hat, in ihrer Beharrlichkeit und Sorgfalt des Sammelns und Bewahrens, ihrer Liebenswürdigkeit, ihrem Witz, in ihrem Wissen, und zugänglich auch: in ihrer ihr eignen Erschütterung und Trauer.

Das Haus in der Altheimstrasse, in dem Musch lebte, war für viele Menschen und für manches Anliegen eine "Adresse". Als ich es im Auftrag des Jüdischen Museums Berlin vor gut zehn Jahren das erste Mal betrat und der gestapelten Erinnerungen in Muschs Räumen gewahr wurde, konnte ich nur stammeln: "Das alles ist ja einzigartig", und Musch erwiderte selbstbewußt: "Ja, da haben Sie recht!"

In der Altheimstraße Nr. 10 fanden mütterlicherseits die gänzlich unorthodoxe Linie des protestantischen Pfarrhauses Hillmann und von Seiten des Vaters eine gänzlich unorthodoxe Linie Berliner Judentums aus dem durch den Großvater Moritz berühmten Geschlecht der Steinschneider zusammen. Und beide Linien, das war immer zu spüren, lebten in Musch fort.

Als es für Musch wegen ihrer jüdischen Herkunft in Nazi-Deutschland immer brenzliger wurde, floh die Mutter Eva mit der zehnjährigen Tochter 1938 zum Vater Adolf Steinschneider, der als linker Rechtsanwalt bereits 1933 ins Exil gehen musste, nach Paris. Doch das Exil in Frankreich bot nur für kurze Zeit eine scheinbare Sicherheit. Mutter und Tochter kehrten nach dem Krieg allein nach Frankfurt zurück. Der Vater Adolf war 1944 von SS-Leuten erschlagen worden und Musch verlor in Frankreich auch ihre große Jugendliebe, den Maler Peter Grumbacher, der im Sommer 1942 in ein Vernichtungslager deportiert wurde. Wenn wir von Musch heute Abschied nehmen, dann gedenken wir auch ihrer "zwei Männer", die sie durch die deutsche Vernichtungswut verloren hat.
Wenn sich in der Altheimstraße in Muschs Räumen die Erinnerungen stapelten, dann waren sie nicht von allein dorthin gelangt. Musch hat sie neben ihrer Sorge für die Kinder Danielle und Benny, neben ihrem Berufsleben, neben ihrem politischem Engagement viele viele
Jahre hindurch aus weiter Ferne zusammengetragen. Sie hat Manuskripte, Korrespondenzen und Dokumente ihres ermordeten Vaters gerettet wie auch die Papiere und Briefschaften ihres Onkels Gustav Steinschneider, der nach Palästina emigriert war. Auf diese Weise ist ein ungewöhnlich vielschichtiges Archiv entstanden, für die Nachwelt eine einzigartige Chronik des Exils, des Überlebenskampfes und des Widerstands in finsteren Zeiten.

Musch ist in Schulen aufgetreten, um über ihr Exil zu berichten, sie hat Lesungen aus den Briefen ihres Vaters veranstaltet, eine Ausstellung mit Zeichnungen ihres ermordeten Jugendfreundes Peter Grumbacher organisiert. Aber sie war auch dort tatkräftig, wo es ihrem Vater und Onkel nicht mehr möglich war, die stolze Tradition der Steinschneiders zu pflegen und hat zusammen mit Frau Dr. Heuer die Korrespondenz Ihres Urgroßvaters Moritz Steinschneider mit seiner Verlobten Auguste Auerbach publiziert. Das ist ein dicker Wälzer, aber mit ungemein vielen aufgeklärt frischen Briefen junger jüdischer Menschen aus der Zeit noch vor 1850, bei deren Lektüre uns auch Musch begegnet.

Musch ist mit hellem Bewusstsein aufgewachsen in einer über mehrere Generationen zurückreichenden aufgeklärten jüdischen Familientradition, der sie ihr Leben lang die Treue hielt, auf die sie stolz war und für die sie mit Kräften auch etwas getan hat. Davon hat man immer etwas gespürt, wenn man sie in der Altheimstrasse besuchen durfte, und ich glaube, dass wir besonders heute an Muschs Treue zum gelebten Leben und ihren Wunsch, alles Gute und wahrhaft Menschliche vor dem Vergessen zu bewahren, denken sollten.

Nehmen wir Abschied! Sagen wir Adieu Musch! Gedenken wir Muschs in Liebe, in Dankbarkeit, in Treue zu dem, was sie zu sagen hatte, was sie uns hinterlässt und in Treue zu dem wofür sie gekämpft hat.

Erinnern wir uns auch daran, dass dieser Kampf um Gerechtigkeit in der Welt für Musch begann in der Ohnmacht und Bedrohung von Flucht und Exil. Bekräftigen wir die "Solidarität der Erschütterten" zu der uns der Philosoph André Glucksmann angesichts des mörderischen 20. Jahrhunderts und mancher Tendenzen der Gegenwart aufruft, der als Kind im besetzten Frankreich dem Terror der Verfolgung ebenso ausgesetzt war wie Musch Steinschneider.

Ich trage nun einen kleinen Text vor, den Musch niederschrieb nachdem sie den Film "Das Leben ist schön" mit Roberto Begigni gesehen hatte, den sie mir einmal in die Hand drückte mit dem Wunsch, dass er eines Tages doch das Licht der Welt erblicken möge und gedruckt würde, wie so vieles, das Musch behütet hat und liebte, es verdiente von der Welt wahrgenommen und weitergegeben zu werden.

(27. Mai 2010 Beerdigung Friedhof in Frankfurt-Eschersheim)

Horst Olbrich 27.5.2010

An Musch
Das ist lang her, liebe Musch. Da hörten wir gemeinsam im "Club Voltaire"
irgendeinen Vortrag. Wodurch bist Du mir aufgefallen?
Damit, weil Du dem Vortragenden einige Argumente entgegen brummtest,
die sehr menschlich, sehr vernünftig, sehr wenig ideologisch klangen.
Als ich die folgende Diskussion verfolgte, fiel mir dies immer wieder
auf: da sprach keine ältere Frau aus politischer Überzeugung allein,
da sprach einfach ein weiblicher Mensch, der seinen eigenen Kopf zu benutzen gewohnt war.
Und was für ein Kopf! Dessen äußere Härte wurde zwar manchmal
durch eine ganz eigene Art von Humor aufgeweicht - aber man musste
schon viel Vertrauen bei Dir genießen, ehe Du einen anderen Menschen
nicht zum Widerspruch allein, sondern zum Gespräch eingeladen hast.
"Wenn Sie artig sind", sagtest Du damals zu mir," dann darfst Du mich
duzen". Ein überzeugendes Lächeln unterstrich diese Worte.
Ich hätte niemandem geraten, in dieser Situation dieses Angebot aus-
zuschlagen. Außerdem war ich viel zu neugierig auf weitere Begegnungen: Leute hatten mir Fangleinen ausgelegt in Form von Stichworten. "Jüdin" "Kommunistin" "Überlebende des Holocaust" "Vater von Nazis ermordet"
Ehrfurcht beschlich mich. Also - so sehen Menschen aus, die bei den Faschisten verfolgt wurden, deren Familie zum Teil umgebracht worden waren? Vor mir saß also eine Frau, deren Kindheit von Erfahrungen
geprägt worden waren, von denen wir lieben Bundesbürger uns keine wirkliche Vorstellung machen konnten.
Diese Erfahrungen kannten wir aus Büchern, medialen Dokumentationen, aus Gerichtsakten. Diese Menschen hatten in meinen Augen eine ganz andere Daseinsberechtigung hierzuland als wir "normalen"Bürger. Die waren ja nicht innerhalb der behüteten Weiden aufgewachsen - die hatten ja noch in der Wüste gesessen, waren mehr oder minder
schutzlos deren extremen Witterungsbedingungen ausgesetzt.
"Musch" nenne man Dich, sagtest Du, Musch - was für ein zärtlicher Klang in diesem kurzen Namen: wenn ein Kind dieses Namens in so
einer Wüste ausgesetzt wird, dann braucht es den besonderen Schutz,
damit diesem liebevollen Namen der Schmelz erhalten bleibt, der ihn
umgibt. Der Mord am Vater aber, das bewachte Lager , die Erniedrigungen,
die jeden Schmelz verätzten, der Verlust des ersten, des zärtlich behüteten
Freundes , all diesen und vielen anderen inneren Verletzungen von Seele
und Körper - auf diese Wunden legte sich durch die folgenden Lebens-
jahre immer wieder dieser Name "Musch". Der allein gab Zeugnis davon,
dass das Kind, das junge Mädchen, die Frau von einer Liebe wusste, die
selbst die widerlichsten Beleidigungen irgendwie , irgendwann überstanden
hatte , dass diese Liebe eine Schutzhülle gebildet hatte, zur Quelle wurde,
aus der eine Kraft entsprang, die ein anderes Leben , mit anderen Menschen
möglich machte.
Und dann gab es ja noch die vielen Briefe des Vaters, der Mutter, des
Onkels, dem es gelungen war sich rechtzeitig zu retten - ein vielfältiges
Zeugnis früheren Lebens, aus dem immer wieder berichtet werden konnte.
Im ehemaligen Leben der geliebten Musch. Das tat sie. Und sie kämpfte
um Aufmerksamkeit für die humanistisch geprägte Vorstellungswelt
ihres Vaters, sie kämpfte darum, dass wir ihn und ihre anderen Mit-
glieder der Familie nicht vergassen, sie hielt fest an jedem Brief , an jedem
Dokument aus der friedlichen und aus der vom Krieg geprägten Vergan-
genheit ihres jungen Lebens. Das war das Einzige, was sie für ihren Namen
tun konnte, denn der gehörte in diese andere Zeit, der war der Ursprung
ihrer Gefühle für die geliebten toten Menschen. Das Leben danach wurde
angenommen in seinen Umständen, so gut es eben ging.
Sie machte nie viel Geschrei um all die Verletzungen aus der Nazi-Zeit,
sie wollte Respekt, sie wollte dokumentierte Erinnerung, sie hätte gerne
ein Buch entstehen sehen, das die Geschichte Adolph Steinschneiders,
ihres Vaters, und dessen Visionen und Vorstellungen einer anderen,
einer besseren Welt beschreibt. Dieses Ziel, liebe Musch, hast Du nicht
mehr erreicht, trotz Deiner Hartnäckigkeit, trotz Deiner Ausdauer, trotz
Deiner tief in Dir selbst immer weiter lebenden Liebe.
Du warst eine gute Kämpferin, Musch, eine liebevolle Tochter Deines
Vaters. Wir können uns nur verneigen vor dieser Deiner Lebenskraft.
Und wenn man es sich recht überlegt, dann bin ich fest überzeugt davon,
dass Dir schon ein paar glaubwürdige Argumente im Himmel einfallen
werden, die selbst Gott dazu bestimmen könnten , ein Adolf Stein-
schneider-Archiv einzurichten.

Peter Heusch 27.5.2010

 

Trauerrede für Marie-Louise "Musch" Steinschneider 27. Mai 2010

Liebe Danielle, lieber Ben, liebe Gerlinde, lieber Jörg, liebe Enkelkinder Hannah, Miles und Maurice, liebe Familienangehörige, liebe Trauergemeinde, liebe Genossinnen und Genossen.
Wir nehmen Abschied von der Mutter, Großmutter und Schwiegermutter, von der Freundin und Nachbarin, von der Antifaschistin und Kommunistin, von dem Menschen Marie-Louise Steinschneider, unserer Genossin "Musch".
Sie wurde am 7. Juni 1927 in Frankfurt am Main geboren. Ihre Altern waren die Pfarrerstochter Eva Hillmann und der Rechtsanwalt Adolf Moritz Steinschneider. Beide waren 1933 wegen ihrer politischen Aktivitäten gefährdet, der Vater zusätzlich wegen seiner jüdischen Abstammung, und mussten emigrieren.
Ab 1938 lebte die Familie, geprägt von größter Armut, in Paris. Während des Krieges musste die Familie dann weiter nach Süd-Frankreich flüchten und kam nach Bellac. Das kärgliche Leben in der Emigration, und die Ermordung von Muschs Vater durch Angehörige der SS-Division "Das Reich", die kurze Zeit zuvor das Massaker in Oradour sur Glane angerichtet hatte, einen Monat vor der Befreiung, prägten das ganze Leben von Musch. 1948 kam sie wieder nach Frankfurt zurück. Sie wusste, wohin sie gehörte und begann ihr politisches Leben in der Freien Deutschen Jugend. Hier, und später in der Kommunistischen Partei diskutierte sie offen und ehrlich und stellte manche eigenwillige und unbequeme Frage.
Beim Auftritt des kubanischen Duos "Ad Libitum" im letzten Jahr äußerte sie voller Freude: "Der Kampf unserer Eltern und unser Kampf ist einfach richtig, leider aber auch immer noch notwendig!"
Trotz ihrer schweren Krankheit in den letzten Monaten beteiligte sich Musch weiter am Leben der Partei und diskutierte mit uns übe die politische Situation und das notwendige Handeln. Sie wollte auch im Krankenbett weiter informiert sein.
Musch hatte die Angewohnheit, zu Veranstaltungen immer erst dann zu erscheinen, wenn diese schon begonnen hatten. Aber selbst bei überfüllten Veranstaltungen bekam sie immer einen bequemen Platz.
Am 21. Mai 2010 fand in Mainz ein Gesprächsabend und ein Fest mit antifaschistischen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern aus dem Rhein-Main-Gebiet statt, zu dem auch Musch eingeladen war. Die Veranstalter rechneten auch mit dem üblichen Verhalten von Musch. Sie mussten von Frankfurter Teilnehmern jedoch die traurige Mitteilung erhalten, dass Musch am 17. Mai verstorben war.
Liebe Trauergemeinde,
Der Dichter Bertolt Brecht unternahm den Versuch, ökonomische Manipulationen in einem Drama zu gestalten. Er lässt die Titelheldin seines Stückes "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" zu der Erkenntnis kommen, da sie die Verhältnisse in den Schlachthöfen erkannt hat, dass diese nicht mehr unabänderlich sind, sondern von denen gemacht, welche ihren Vorteil davon haben. Johanna ruft aus:
"Denn nichts werde gezählt als gut, und sehe es aus wie immer, als was wirklich hilft, und nichts gelte als ehrenhaft mehr, als was diese Welt endgültig ändert: sie braucht es."
Musch, wir Genossinnen und Genossen der Deutschen Kommunistischen Partei danken dir für deinen Einsatz in der Zeit, die auf Erden dir gegeben war, in der du, gemeinsam mit uns, versucht hast, diese Änderungen herbei zu führen. Ich verneige mich vor deinem kämpferischen Leben.
Willi Malkomes

Wir danken allen Freunden und Verwandten, die mit uns von Musch Abschied genommen haben und ihre Anteilnahme zum Ausdruck brachten.

Danielle Feigenbaum und Ben Steinschneider

 

 

 

Villenkolonie Döberitz 1911/12

ehemaliges Haus der Familie Steinschneider 2008

Steinschneiderstrasse in Döberitz

Strassenschild in Dallgow-Döberitz auf Initiative einiger Einwohner von der Gemeinde angebracht

Fr. 15.10.04